Warum gibt es eigentlich in Frankreich so wenig Kritik an der Atomenergie?

Von | 19.05.2021

Bei Sortir du nucléaire haben wir kürzlich einige Erklärungen dafür gefunden, warum es in Frankreich so wenig Kritik an der Atomenergie gibt.

Irreführende Werbung

Eine Rolle spielt dabei z. B., dass EDF ungestraft irreführende Werbung verbreitet. So hat Sortir du nucléaire erneut Beschwerde beim französischen Werberat erhoben, weil EDF auf seiner Website die Atomkraft zur „notwendigen Energie“ erklärt, und zwar unter folgenden Stichworten:

Verfügbarkeit: Dank Atomkraft sei Strom jederzeit das ganze Jahr über verfügbar.

Wettbewerbsfähigkeit: Dank Atomkraft koste der Strom durchschnittlich 40% weniger als in den Nachbarstaaten.

Klimaschutz: Die Produktion von Atomstrom sei CO2-frei.

Sicherheit: In Frankreich seien die AKWs strenger kontrolliert und besser geschützt als sonstwo.

Versorgungsunabhängigkeit: Der große Anteil von Atomstrom am Energiemix sichere die Versorgungsunabhängigkeit des Landes.

All diese Behauptungen sind zum großen Teil falsch, was EDF auch weiß, denn ähnliche Werbeaussagen wurden schon mehrfach als irreführend untersagt.

Offenbar sind mit einem solchen Verbot aber keine spürbaren Sanktionen verbunden, wenn sie trotz Verbots einfach immer nur ihre Werbung leicht abwandeln und munter damit weitermachen.

Keine Konkurrenz

Wir haben uns ja schon immer gewundert, wieso EDF nach wie vor praktisch ein Monopol besitzt, obwohl die EU den Strommarkt eigentlich längst liberalisiert hat. Mal abgesehen davon, dass die EU-Kommission gegen Verstöße aktiv werden müsste und dies nicht tut, wurde auch ein Trick gefunden, der den Strommarkt formal liberalisiert. Dies geht aus dem Artikel „Die Energie darf nicht privaten Oligopolen überlassen werden“ hervor.

Obwohl der Strommarkt bereits seit fast 20 Jahren für Wettbewerber geöffnet wurde (seit 2007 auch für Verbraucher), beschränkt sich die Konkurrenz auf den Vertrieb. Ein Gesetz verpflichtet EDF nämlich dazu, die neuen „Konkurrenten“ mit einem Viertel der eigenen Stromproduktion zu beliefern, und das auch noch zu Preisen unter dem Selbstkostenpreis. Dieser Mechanismus heißt „méchanisme pour l‘accès régulé au Nucléaire Historique“ (Mechanismus für den regulierten Zugang zur historischen Atomkraft). Die Konkurrenten verkaufen also denselben Atomstrom wie EDF und haben keinerlei Motivation, den Strom aus anderen Quellen zu beziehen. Deshalb gibt es außer Enercoop in Frankreich praktisch keine Ökostromanbieter.

Unter dem Titel „Atomkraft, das ewige finanzielle Fass ohne Boden“ wird von Sortir du nucléaire erklärt, wie viel Geld bislang durch dieses Fass geflossen ist. Im Folgenden die interessantesten Passagen:

Schon seit 1945 gibt es das Atomenergiekommissariat (Commissariat à l‘Energie atomique, CEA), das von allen Regierungen bis heute mit enormen Finanzmitteln ausgestattet wurde, ohne irgendwelche politische Kontrolle. Ziel war zunächst die Finanzierung der Atombomben. De Gaulle ergänzt die Atomsparte dann um einen zivilen Bereich. Deshalb ist Frankreich heute das am stärksten nuklearisierte Land der Welt: 12 stillgelegte Atomreaktoren, 56 aktive Atomreaktoren, einer im Bau, 300 Atombomben, zahlreiche Forschungsanlagen und reaktoren, Reaktoren für U-Boote und Flugzeugträger und nicht zuletzt die „Wiederaufbereitungs-“Anlage in La Hague. Im Jahr 2012 bezifferte der Rechnungshof die Investitionen nur in den zivilen Bereich seit 1945 auf 188 Mrd. EUR. In den letzten Jahren verfügte das CEA über Jahresbudgets von 5 Mrd. EUR (3 für die zivile und 2 für die militärische Forschung), was aber Peanuts sind im Vergleich zu den Gesamtkosten.

Als wahres Finanzgrab hat sich der EPR herausgestellt. In Olkiluoto stiegen die Baukosten von 3 Mrd. auf 10 Mrd. Die Zusatzkosten wurden vom finnischen Staat getragen. Trotzdem ist der Bau nicht fertig und der Bauträger Areva SA praktisch pleite. In Flamanville liegen die Baukosten momentan bei 19 Mrd. und es ist nicht sicher, ob das Ding jemals fertig wird. In Hinkley Point (Bauträger EDF) waren für 2 Reaktoren anfangs 24 Mrd. veranschlagt, die schon um 2 Mrd. überschritten wurden. Die einzigen beiden EPR, die bereits laufen, stehen in Taishan (China), wobei die Bauzeit nur um 5 Jahre und die Baukosten um 60% überschritten wurden.

Trotzdem planen EDF und die französische Regierung den Bau von weiteren 6 EPR mit noch mehr Leistung, die trotzdem billiger kommen sollen (insgesamt 46 Mrd.).

Unter der Bezeichnung „Grand carénage“ (in etwa: Generalüberholung) plant EDF Flickschusterarbeiten an den alten AKWs, um deren Betriebsverlängerung über 40 Jahre hinaus rechtfertigen zu können. EDF beziffert die Kosten auf 50 Mrd., der Rechnungshof hingegen auf 100 Mrd.

18 Mrd. plant EDF für die Stilllegung von 58 Reaktoren ein, was der französische Rechnungshof und die Atomenergieagentur der OECD für stark unterschätzt halten.

Hinzu kommen die Kosten für die Endlagerung, für die momentan 25 Mrd. eingeplant sind, von der Andra selbst aber schon auf 34,5 Mrd. geschätzt werden. Was die Endlagerung der nicht hochradioaktiven Abfälle kostet, die momentan überirdisch in La Hague, in Morvilliers, Soulaine, bei Limoges und in Tricastin lagern, ist da noch gar nicht berücksichtigt.

Trotzdem wird weiter fleißig am Versuchs-Fusionsreaktor ITER in Cadarache gebaut, dessen Kosten derzeit auf 20 Mrd. veranschlagt sind und von 35 Ländern finanziert werden. Zweck des Versuchs ist, herauszufinden, ob mit dieser Technologie überhaupt Strom produziert werden kann. Ein Ergebnis wird nicht vor 2050 erwartet.

Die Atomkonzerne sind entsprechend in finanziellen Nöten. Areva war wegen hochriskanten Investitionen, Korruptionsaffären und den explodierenden Kosten des EPR in Finnland in Schwierigkeiten geraten und wurde 2017 „umstrukturiert“ und vom Staat mit 5 Mrd. frischem Kapital ausgestattet. Areva wurde in 3 Teile aufgespalten: Teil 1 (umbenannt in Orano) behielt die Uranminen und die Brennstoffherstellung sowie nukleare Dienstleistungen, darunter die Stilllegung von Atomanlagen. Teil 2 (umbenannt in Framatome) wurde Tochtergesellschaft von EDF und befasst sich mit der Planung von Reaktoren und der Belieferung von AKWs mit Material. Unter dem Namen Areva SA existiert Teil 3 weiter als Bauträger des finnischen EPR. In den USA läuft noch ein Verfahren gegen Areva wegen Korruption, in dem ein Bußgeld von bis zu 24 Mrd. droht.

EDF wurde 2004 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, deren Hauptaktionär allerdings der französische Staat ist (83%). Der Aktienkurs fiel von 32 EUR (2005) auf 12 EUR heute. Deshalb flog EDF 2015 auch aus dem französischen Börsenindex mit dem schönen Namen CAC. Die Schulden von EDF belaufen sich offiziell auf 40 Mrd., wobei jedoch die in der Zukunft drohenden enormen Kosten (siehe oben, Generalüberholung etc.) gar nicht berücksichtigt sind. Deshalb sind die französische Regierung und die EU-Kommission auf die geniale Idee verfallen, auch EDF abzuwickeln. Im Rahmen des Projekts Hercule soll die Atomsparte mit den Schulden zu 100% verstaatlicht werden. Enedis (Netzbetreiber), Dalkia und die Erneuerbaren werden privatisiert und an der Börse notiert. Also mal wieder Kollektivierung der Schulden, Privatisierung der Profite.

Die Kosten der militärischen Atomsparte (Raketen, Flugzeugträger, Satelliten, Übertragungs- und Kontrollsysteme) lassen sich kaum schätzen.

In einer Studie der Rüstungsbeobachtungsstelle werden sie für die Zeit von 1945 bis 2011 auf 380 Mrd. EUR geschätzt. Im Gesetz zur militärischen Planung 2019-2025 sind für die Modernisierung der Bomben 37 Mrd., für 6 neue Atom-U-Boote 9 Mrd. und neue Flugzeugträger 10 Mrd. veranschlagt.